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gestern

Mem'ries light the corners of my mind
Misty water-colored mem'ries of the way we were

Scattered pictures of the smiles we left behind
Smiles we gave to one another for the way we were.

Can it be that it was all so simple then
Or has time rewritten every line
If we had the chance to do it all again, tell me, would we, could we

Mem'ries may be beautiful and yet
What's too painful to remember we simply choose to forget
So it's the laughter we will remember
Whenever we remember the way we were.

The way we were.

Untertitel: Der Zuhälter und ich

Untertitel II: Früher war alles besser?

Ich lese sie wirklich gern, diese Frau. Ich mag Ihre Klarheit und Authentizität.

Und immer wieder stoße ich dabei auf meine eigene Vergangenheit.

Im Alter von knapp 20+ habe ich (ich weiß nicht, ob ich irgendwann hier schon einmal davon erzählt habe) in illegalen Nachtclubs gejobbt, um mir mein Studium zu finanzieren. Dem ging ein Machtkampf mit meinem Vater voraus. Nach drei Semestern wollte ich die Studienrichtung wechseln und er meinte: "Nur, wenn du dir das selbst finanzierst." Und so kam es, dass ich über einen entfernten Bekannten aus der Szene diesen Job bekam.
Illegale Schwarzarbeit mit der Chance eine ganze Menge Kohle zu verdienen in einem "Club", der um 24 Uhr öffnete und frühestens um 10 Uhr Vormittag zusperrte, sollten die Gäste nicht ausbleiben.
Die Stammkundschaft bestand aus "Unterweltgrößen", Straßennutten, die ihren Dienst beendet hatten und Lokalbesitzern und Barkeepern div. Diskotheken.
Bis vier Uhr früh war ich fast allein, der Türsteher unterwegs um Drogen zu verchecken bis ich irgendwann begann ein paar Halbwüchsige rein zu lassen die gehen mussten, sobald die ersten "ernsthaften" Kunden auftauchten. Das waren Kids aus desolaten Familien, viele bereits auf Heroin, die auch ihre Folien bei mir rauchten und sich vor allem bei mir auskotzten. Es waren schlimme Geschichten und ich hatte auch nicht den Anspruch sie zu "bekehren", sie durften einfach "Pause" machen bei mir, mussten nichts konsumieren, ab und zu spendierte ich ihnen sogar ein "Red Bull" oder ein Cola.

Am dritten Abend hinter der Bar kam in den frühen Morgenstunden ein Typ Marke "Kleiderkasten", optisch wirklich beeindruckend bis furchteinflößend. Der erste Gast, der sich zu mir an die Bar setzte und mich siezte. Ich lachte ihn aus, meinte, er könne mich ruhig duzen und was er denn trinken wolle. Er lud mich auf zwei Drinks ein und fragte mich dann, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm noch wo anders hin zu gehen. Ich verneinte, meinte, so früh könnte ich den Club noch nicht schließen.

Oh doch, ich konnte. Wie sich herausstellte war er einer der drei Besitzer (der Bekannte über den ich zu diesem Job gekommen war, war nur der Geschäftsführer). Und da erst (ja, ich war damals furchtbar naiv) begann ich langsam zu begreifen, wem der Club gehörte. M (Chef der Truppe), H. (verantwortlich für die Finanzen) und R. (*der* Zuhälter der Stadt).
M. kontrollierte damals alles - den Strich bis runter nach Rimini, den Drogenhandel, aber auch den illegalen Waffenhandel, "Schutz" für Lokale etc.

Es war R., mit dem ich zu tun hatte, es war R., mit dem ich an diesem Tag noch bis in den frühen Abend hinein in anderen Clubs (auch alle in der Hand der selben Crew) unterwegs war.
Es war R., der mich von da an hofierte, mich gratis mit Drogen versorgte (die Schichten waren ohne Aufputschmittel kaum durchzustehen, die Uni sah mich ohnehin nicht mehr). Und es war R., in den ich mich letztlich verliebte und mit dem ich ein Verhältnis begann, das zunächst auch die volle Billigung M.s erfuhr.

Die Sache begann bereits leicht zu kippen als wir unsere erste gemeinsame Nacht verbrachten. Als ich aufwachte war er weg und eine nicht unbeträchtliche Summe lag auf meinem Nachttisch, die ich ihm, als er mich Nachts im Club wie üblich besuchte in die Hand drückte und ihm sagte, er möge bitte aus meinem Leben verschwinden, er hätte da wohl grundlegend etwas missverstanden, ich wäre *nicht* käuflich.

Ich werde es nie vergessen, wie dieser Bär von einem Mann vor mir stand, verlegen wie ein Schulbub - ich hätte das alles missverstanden und so wäre es auch nicht gemeint gewesen ... (Jahre später erfuhr ich, dass ich mit meinem Verdacht natürlich doch richtig gelegen bin, dass ihn meine Reaktion zutiefst irritiert hatte.)

Von da an jedoch hatte sich unsere "Beziehung" noch einmal gewandelt, begann er mir zu erzählen von allem, wie er zur Fremdenlegion kam, wie er von dort abhaute, wie er M. kennen lernte, wie seine "Zuhälterkarriere" begann, wie das läuft mit den Mädels, wie er es empfindet. Keine Frage, die ich nicht stellen durfte, wenn wir allein waren - und das waren wir oft.

Und ich genoss dank unseres Verhältnisses einen besonderen Status, war quasi "unantastbar". Wie schnell sich das änderte als R. schließlich für 6 Monate ins Gefängnis musste, weil er eine Frau krankenhausreif geschlagen hatte, sollte ich erst merken, wobei ich auch das nicht glauben konnte. R. war für mich jemand, der nie auf schwächere losgehen würde, jemand mit einem "Ehrenkodex", ein Beschützer ... das Faktum, dass er genau das getan hatte, dass er genau dafür sogar verurteilt wurde, blendete ich recht erfolgreich aus.

Ja, ich war naiv, sehr naiv. Es galt natürlich dieser "Ehrenkodex", nur hatte ich darunter ganz andere Vorstellungen, die nicht annähernd der Realität entsprachen. Ja, er beschützte *mich*, im Sinne einer perversen Mythologie, die wohl am ehesten dem entspricht was Klaus Theweleit in "Männerphantasien" herausgearbeitet hat und auch seine Briefe an mich aus dem Gefängnis sprachen diese Sprache von "kleiner Schwester und großem Bruder".

Ich hatte es nicht leicht in der Zeit, als er weg war vom Fenster und merkte den Unterschied. Nicht *ich* war respektiert worden in dieser ganzen Zeit, ich war respektiert worden als R.s Eigentum. Wie sehr hatte ich mich nur selbst überschätzt.

Die endgültige Eskalation hatte einen mehr als banalen Anlass. R. war wieder heraußen. Wir feierten das bis spät in den Nachmittag hinein, dann gingen die Zigaretten aus. Irgendjemand hätte fahren können, man hätte Nachschub auch via Taxi bestellen können, aber plötzlich war klar: Ich als die einzige anwesende Frau hätte dafür zu sorgen und R. sollte gefälligst dafür sorgen, dass ich das auch mache. Ich, mit dem Makeup der Nacht und in den Klamotten der Nacht fragte ihn: "Du sag, das ist jetzt aber nicht dein Ernst, dass ich in der Aufmachung zum Bahnhof (nur da gab es Zigaretten) fahren soll?"
Er wand sich. Zog mich an sich, meinte, ich solle jetzt dafür sorgen, dass er nicht sein "Gesicht" verliert, plapperte sogar etwas von Eva, die aus der Rippe Adams gemacht ist (kein Scherz!).

Ich stand wortlos auf und ging.

Auch wenn wir uns später noch ab und zu trafen und unterhielten, bis die gesamte Bande in einem aufsehen erregenden Prozess wegen organisierter Kriminalität hinter Gittern verschwand, darüber kamen wir nicht hinweg. Er brauchte lange, um sich wegen dieser Kleinigkeit vor seinen Kollegen wieder zu "rehabilitieren".

So klein also war das Ego dieser vermeintlich "großen starken Männer", so zerbrechlich ihr Status und ihr Ego.
Da erst begriff ich, warum er, wenn wir in seine noch vom vorhergehenden Abend verwüsteten Wohnung kamen, gleich nach dem Aufstehen begann wie ein Besessener Ordnung zu machen, obwohl sich nur die angekündigt hatten, die auch für die Verwüstung mitverantwortlich waren. Es war, um den Anschein zu wahren, *ich* würde selbstverständlich das Chaos beseitigen, wenn ich schon bei ihm bin. Eine Frau bei sich zu haben, die nicht seinen Dreck beseitigt, auch das wäre eine Frage der Ehre gewesen, ein potenzieller "Gesichtsverlust".

Und da erst begann ich auch langsam zu begreifen, dass es nie *ich* war, die er beschützt hat, es war immer nur er selbst, immer ging es nur darum *sein Gesicht* zu wahren. Alles war nur nötig um zu vertuschen, dass er es nicht fertig gebracht hätte, mich zu schlagen.

Was mich heute oft noch beschäftigt ist, wie blind ich war, wie sehr ich meine privilegierte Rolle in diesem Spiel für meinen eigenen Verdienst hielt, diese verdammte Eitelkeit, die mich daran hinderte das Ganze zu sehen, am Lack zu kratzen. Wie verführerisch es war, mich für etwas Besonderes zu halten und wie enttäuschend festzustellen, dass ich nichts Anderes war als Opfer der Umstände - ein beliebig austauschbares Mosaiksteinchen im Spiel von Macht und Ehre und Männermythen, dass ich nichts anderes hatte als eine gewaltige Portion Glück.



wie alles begann ...





In den frühen 80ern war man als Mädchen aufgeklärt, aufgeschlossen, aufgeknöpft. Und hatte sexuelle Erfahrungen selbstverständlich - kaum dass sich die ersten Rundungen abzeichneten und sich die Tage wenn auch nur unregelmäßig einstellten.
Es war wichtig "auf den Richtigen" zu warten, riet Dr. Sommer. Aber der Richtige? War das nicht schon das erste Pickelgesicht, das mit seinem schweißnassen Händchen das eigene drückte?
Wichtiger als "der Richtige" um ehrlich zu sein war das Mitredenkönnen. Und das konnte sie nicht, June. Ausser ihren Kusserfahrungen hatte sie nicht wirklich etwas vorzuweisen.

Gut, der Junge von nebenan, einer von denen, mit denen sie zusammen Mutproben bestanden, gerauft, Luft aus Autoreifen gelassen und ähnliches hatte, mit dem hatte sie neuerdings schon manchmal beim Plattenhören Händchen gehalten. Der hatte sie auch gefragt, ob sie mit ihm gehen würde.
Peter war ja auch "süß", mit den dunklen Locken und den großen braunen Augen. Aber bei ihrer ersten schüchternen Andeutung auch sehr deutlich: "Dafür sind wir doch noch viel zu jung."
Ein "Loser" also, wie sie wenige Wochen später feststellte, als sie IHN kennenlernte.

Stolze achzehn und ebenso stolzer Besitzer einer Aprilia. Mit einem eigenen Eingang zu seinem Teil der elterlichen Wohnung, einer gigantischen Plattensammlung und der Möglichkeit Feten zu feiern oder Leute zum "Abhängen" einzuladen, wann immer er wollte.
So erwachsen, so cool, so ein Gott an der Gitarre. Michael - M_I_C_H_A_E_L, ein Name wie ein Lovesong und er drehte die perfektesten Joints der ganzen kleinen Stadt, daran bestand kein Zweifel.
Und er wollte SIE. Also war er "der Richtige" - auch daran bestand kein Zweifel.

Und bei "Venus in furs" war es dann soweit. Der magische Moment. Der, von dem ihr ihre Freundinnen schon so viel erzählt hatten, der schmerzvollste, wunderbarste, unglaublichste Moment ihres Lebens.
Ach hätte June doch nur einen Augenblick an all diesen Erzählungen gezweifelt und begriffen, wiesehr diese Schundheften nacherzählt und wie wenig sie selbst von den angeblichen Protagonistinnen erlebt worden wären ...

Der wichtigste Moment in Junes Leben war ...
unspektakulär.
Aber da wichtige Momente, wenn sie einmal stattgefunden haben, fixer Bestandteil einer Beziehung werden, was sie widerspruchslos akzeptierte, wurde er im Laufe der Zeit vor allem eines: fad.

Und so übte sie sich zunächst in ihren ersten Rohrschachtests, da an der Decke über seiner - natürlich auf dem Boden liegenden - Matratze einige eigenartige Flecken zu sehen waren, in die sich wie in Wolken in scheinbar endlosen Augenblicken wunderbarstes hineininterpretieren ließ und deren Herkunft sie nie hinterfragte.
Dass gezieltes Stöhnen zwischendurch sein ziemlich bemühtes Auf und Ab und Rein und Raus abkürzen konnten und damit die Rückkehr zu den wirklich spannenden und interessanten Teilen des Zusammenseins beschleunigen konnte, hatte sie recht schnell begriffen und nutzte das auch.

Zudem entwickelte June in dieser Zeit eine absolute vorliebe dafür von hinten genommen zu werden. Das ersparte ihr die Mühe auf ihren Gesichtsausdruck zu achten und sie konnte sich, mittlerweile schon routiniert in regelmäßigen Abständen Stöhnend, in Ruhe Sorgen machen über ihre Frigidität und Gedanken über alles Mögliche.

Nein, Sex, das war irgendwie einfach nicht ihr Ding. Nicht mit dreizehn. Sie hätte wohl lieber in der Fantasie bleiben sollen ... wie, so sollte sich herausstellen, ihre Freundinnen auch.

Aber immerhin war sie nun das, was "man" war. Aufgeklärt, aufgeschlossen und aufgeknöpft. Und die CD mit der Banane hört sie trotz allem heute noch gern zu so mancher späten Stunde.

Junes erster Kuss war nicht wirklich ihr erster. Dieser hatte sich schon gut zwei Jahre vorher ereignet und - welch Klischee - in einem Heustadel in den Sommerferien.
Ganz offensichtlich hatte es sich um eine Wette zwischen ihrem drei Jahre älteren Cousin zweiten Grades und ihrem ein Jahr jüngeren Cousin gehandelt.
Ersterer war es, er, der einen halben Sommer lang Angehimmelte, der an einem dieser warmen, geselligen Heubodenabende den Arm um sie legte (was sie zittern machte und ein seltsames Kribbeln im ganzen Körper verursachte) und sie dann sehr unbeholfen auf den Mund küsste und versuchte mit seiner Zunge ihre Lippen zu teilen (eine Aktion, die jedes Kribbeln auf der Stelle im Keim erstickte und June nicht nur dazu brachte laut loszuprusten, sondern im vorhergehenden Erschrecken auch einen Beissreflex auslöste, der den ebenfalls noch sehr jungen Nicht-wirklich-Kavalier zu einem Rückzug unter gequältem Aufjaulen veranlasste).
Dieser Zwischenfall hatte seine verfrühte Abreise und das Ende ihrer Schwärmerei für ihn zur Folge (sie sahen sich erst viele Jahre später wieder).

Junes erster Kuss war also nicht wirklich ihr erster Kuss, aber der erste gewollte. Es war eine der damals nicht selten stattfindenden "La Boum Parties". Der Film war gerade erst in den Kinos gelaufen und verbotener oder erlaubter Weise von beinahe allen (angehenden) Teenagern der kleinen Stadt, in der June aufwuchs, gesehen worden und hatte (wie vermutlich andernorts auch) unter den Mitgliedern der Zielgruppe nicht "nur" Partiefieber ausgelöst.
("Dreams are my Reality" lässt June heute noch sentimental werden und das wird sich vermutlich auch in den nächten 50 Jahren nicht ändern.) Auf diesen Parties wurde vor allem eines: Zu späterer Stunde und furchtbaren Schnulzen hingebungsvollst eng getanzt.

Diese spezielle Party war eine zu Ehren des 13. Geburtstags einer "engen" Freundin, soweit man von "enger Freundschaft" überhaupt sprechen kann, hatte June doch erst wenige Monate vorher begonnen ihre ersten Mädchenfreundschaften zu pflegen.

June war unter Buben groß geworden, hatte sich unter Buben wohlgefühlt. Hatte gewusst, wie man sich prügelt, Baumhäuser baut und Banden gründet, nur Ballspiele, die waren nie ihre gewesen, aber das ist eine andere und auch sehr lange Geschichte. Und nun war sie in das Alter gekommen, in dem sich neben allem anderen auch das geändert hatte.
Nicht, dass sie nicht schon verliebt gewesen wäre, ihre erste Schwärmerei hatte sie bereits im Kindergarten hinter sich gebracht, dennoch: beinahe von einem Tag zum nächsten gehörte sie nicht mehr dazu, wurde hinter ihrem Rücken geflüstert und es war anders als die Lästereien von früher, wurde hinter ihrem Rücken gekichert und es machte sie nicht mehr wütend, sondern verlegen. Zudem beschäftigten sie nun Dinge, die ihre Spielgefährten von früher zu fremden Wesen machte, denen sie sich unmöglich anvertrauen konnte.
June verlor - und weinte - viel zu dieser Zeit. - Und knüpfte ihre ersten Mädchenfreundschaften.

So kam es, dass sie eingeladen war zu Claudias 13. Geburtstag. Der Partykeller war wie aus einem Traum. Nicht nur bunte Glühbirnen, sogar eine richtige Lichtorgel und eine echte Discokugel. Matratzen an den Seiten des Raumes im Keller, ein weiterer Raum mit ebenfalls schummrigem Licht und einem Buffet aus Knabberzeug, Cola, Fanta und sogar einigen (allerdings heimlich hereingeschmuggelten) Flaschen Bier. Eltern, die einem nur die Türe öffneten, einen begrüßten und sich dann den ganzen Abend nicht mehr blicken ließen.

Inmitten diesen Ambientes saß er. Auf dem Boden auf einer der Matratzen. Und war, wie Claudia ihn beschrieben hatte: Dunkelhaarig mit grünen Augen und einem entzückend schüchternen Lächeln. Claudias Schwarm, Junes Objekt-der-Begierde-auf-den-ersten-Blick. Trotz des furchtbaren (Spitz-)Namens: "Romy". Und sah sie an. Sah sie den ganzen Abend lang an. Nicht die routinierte Partygängerin und Gastgeberin, sondern sie.
Dieser Abend kostete June ihre erste Mädchenfreundschaft und brachte ihr eine neue Erfahrung, die dieser ganz besonderen Art des Herzklopfens, wenn Fingerspitzen sich zum allerersten Mal nicht zufällig berühren, wenn Körper sich nicht in einer Rauferein, sondern im Tanz aneinanderdrängen, wenn fremde Lippen die eigenen treffen.
Neue Erfahrungen, die auch durch die Tatsache nicht getrübt wurden, dass seine Kussversuche mehr den Eindruck machten, er würde ihre Mandeln untersuchen und dazu führten, dass sie es noch wochenlang bedauerte, ihm ihre Telefonnummer gegeben zu haben.

Am Beginn der 80er las June wie viele andere auch "Doktor Sommer" und versteckte die Bravo vor der Mutter wie der Vater seine Ausgaben des Playboy (und dieser vermutlich nicht erfolgreicher als June, wenn selbst sie sie fand, später jedoch, erst nach "Doktor Sommer"), verschwendete plötzlich mindestens so viel Zeit auf das Warten auf Haarwuchs (eine noch weit bessere Beschäftigung als das Löcher-in-die-Luft-starren), das Abtasten der eigenen Brüste, die zu schmerzen jedoch nicht und nicht zu wachsen begannen (und das auch später nur spärlich taten) und die genaue Kontrolle dieser faltigen Spalte, aus der später Blut fließen sollte, wie früher mit dem Aufspüren von "Geheimgängen", dem Aushecken von Streichen, dem Zerlegen von Haushaltsgeräten und Erfinden von Geheimsprachen.

June entdeckte die Lust - und die Scham (die Lust in der Scham), erinnerte sich peinlich berührt an das Vergnügen, mit dem sie noch Jahre vorher auf dem Massagestrahl des Schwimmbeckens geritten war und vieles mehr.

Begriff auch (ebenso beschämt), was es mit den uniformierten Männern mit den bahnschaffnerartigen Mützen auf dem Kopf auf sich hatte, die einige Straßen weiter den abends rot beleuchteten Eingang eines Gebäudes bewachten und sie immer anlächelten, wenn sie diesen Weg nach Hause wählte (was die Mutter gar nicht mochte): "Gell, wenn du groß bist, kommst du auch zu uns." Nein, das war kein Auskunftsbüro, auch wenn fast immer gerade ein Auto davor hielt und der Fahrer den jeweils diensthabenden Uniformierten ganz offensichtlich um eine solche bat.

Am Beginn der 80er zerbrach eine Welt und eine neue gab es zu entdecken. Auch diese hatte Geheimgänge, nur andere. Und Geheimsprachen, nur andere.
Und June begann sie innig zu ersehnen, die Eintrittskarte. Eine Eintrittskarte aus Haaren, Brüsten und Blut.

In den frühen 80er trug June in der kleinen Stadt in der sie lebte vorwiegend Jeans, die so eng waren, dass zwei Verkäufer notwendig waren, um sie zuzubekommen und die nach den ersten Malen des Getragenwerdens blaue Flecken an den Hüftknochen hinterließen (ja, Stretchstoffe gab es damals noch nicht) und lange weite Männerhemden darüber.
Dazu dicke Socken und Clarks, große Ohrringe, Peace-Zeichen, Hanfblätter oder dieses nackte, kniende, hingebungsvoll rauchende Mädchen an einem Lederband um den Hals. Junes Lieblingshemd war weiß mit unregelmäßigen feinen rosa und blauen Streifen.
Man trug lange Haare, die immer das Gesicht verdeckten - vor allem auf Familienfotos - die nie ZU sauber aussehen sollten (etwas Körpercreme löste meist das Problem).
Man trug Sonnenbrillen im Joplin-Stil und liebte Jimmy Hendrix, die Patentante der begehrten Brillen, The Doors und die Jazz-Butcher's.
Man bemalte selbst Gitarren, betete den Typen an, der die 12-Saitige spielte wie ein Gott, hatte Matratzen auf den Böden der Kinder- WG-Zimmer, Unmengen an Patiktüchern und liebte Wandteppiche und Wasserpfeifen, die auch geraucht wurden, manchmal sogar mit Rum statt Wasser gefüllt. Man kannte sich aus mit schwarzem Afghanen (wer verkauft den besten) und selbstangebautem Gras.
Man malte Graffitis auf Wände (naja, soetwas ähnliches zumindest -vorwiegend mit Filzer an die Klowände seines Lieblingslokals) mit schwerwiegenden Botschaften - "Auch Atompilze sind schön!" und entsprechende Sprüche auf die Einbände der Schulhefte.

In der ersten Hälfte der 80er in der kleinen Stadt, in der June groß wurde.
In der sie unvermutet lang wurde, in der sie begann ihren Körper zu hassen. Dieses dürre Ding, an dem die Hüftknochen beinahe den höchsten Punkt bildeten, wenn sie in der Sonne auf dem Rücken lag.
(Viele Jahre später hörte sie in einem Schwimmbad ein Mädchen darüber klagen und sah die Freundin verständnisvoll mit dem Kopf nicken und verbiss sich mühsam ein schallendes Lachen).

In dieser Stadt, in der es auch die zwei Quotenpunks gab, einige MODs und viele Schnürlsamthosenträger liebte June die "Alte Teestube", das "Safari", eines der beiden konkurrierenden Jugendzentren und Asia-Läden mit dem durchdringenden Geruch nach Patchouli und Ylang-Ylang, den Patikkleidern und den Samtschuhen mit Riemchen und Anfang der 80er ihren ersten "Mann".

Von dieser June glaube ich möchte ich in der Rubrik gestern beginnen zu erzählen. Nicht mehr heute, vielleicht auch nicht morgen, aber irgendwann. Auf die Gefahr hin, dass es wirkt als würde ich eines der "Mein-erstes-Mal-Blogs" abkupfern.

Was ist schon jemals wirklich neu?